Vaterland und Liebe

Wv 381 "Vaterland und Liebe"

Wv 381 „Vaterland und Liebe“

„Ich möchte meine Staatsbürgerschaft loswerden.“

Mit diesen Worten wandte sich der alte Mann an die Sekretärin des Konsulats. Das Mädchen sah ihn erstaunt an, fragte aber nicht weiter, sondern sagte nur: „Nehmen Sie Platz, der Konsul kommt gleich.“

Acht Stühle waren im Flur aufgereiht, er setzte sich auf einen in der Mitte. Das Konsulat lag nahe dem Bahnhof im achten Stock eines Bürohauses. Der alte Mann war mit dem Zug gekommen und dann zu Fuß gegangen. Er dachte: „Jetzt ist es neun Uhr, vielleicht kann ich noch den Zehn-Uhr-Zug erreichen.“ Er wartete ruhig.

Auf dem Tisch an der Wand gegenüber lagen Zeitschriften, Prospekte und Werbungen für die Fußballweltmeisterschaft. An der Wand hingen Plakate und ein großes Foto von einem riesigen Stein, der auf der Kippe eines Felsens balancierte: “ Visite Tandil!“ Er selbst war vor zwanzig Jahren einmal in Tandil gewesen, aber schon damals war der Stein heruntergefallen.

Er nahm sich eine Zeitung, „La Nacion“. Sie war erst drei Tage alt, wahrscheinlich war sie mit dem Flugdienst gekommen. Er las von einer Anordnung des Staatspräsidenten, die das Höchstgehalt eines Ministers regelte. Vierhunderttausend Pesos. „Wieviel mag das in DM sein?“ überlegte er, fand dann aber auf der letzten Seite den Wechselkurs. Es entsprach genau zweitausend Mark. „Nicht viel“, dachte er, „da muß man doch zuverdienen. Er legte die Zeitung weg. Eine Stunde saß er nun schon hier. Von dem Zehn-Uhr-Zug konnte keine Rede mehr sein.

Sekretärinnen kamen und gingen, einige trugen Kaffee. Eine ältere Frau erschien. Auch sie mußte im Gang Platz nehmen. Warten. Manchmal gingen die Sekretärinnen an ihm vorbei. Er sah jedesmal fragend auf, ob sie ihm etwas sagen wollten, aber sie stolzierten an ihm vorüber, ohne ihn zu beachten, ganz wie sich Frauen im Süden auf der Straße Männern gegenüber zu verhalten haben.

Der alte Mann griff zu einer anderen Zeitung: „Clarin“, die Trompete. Die gleichen Nachrichten. Nur fand er auf der Kunstseite die Besprechung über ein Buch eines Bekannten vor zwanzig Jahren.

Da erschien eine kleine brünette Sekretärin. Sie wollte vorbeitrippeln wie die anderen, aber als sie den lesenden Mann sah, musterte sie ihn neugierig. In diesem Moment sah er gerade über den Brillenrand hoch. Beide fühlten sich ertappt, und sie lächelte leise. Eine unerhörte Kühnheit. Der alte Mann lächelte auch, doch sie war schon vorbei. Für kurze Zeit vergaß er seinen wachsenden Zorn. Zum ersten Mal, seit er hier herumsaß, spürte er eine menschliche Wärme. Dann wieder nichts. Er legte auch die zweite Zeitung weg. Die alte Frau wurde aufgerufen und wieder zum Warten auf den Gang geschickt.

Es war mittlerweile elf Uhr. Er wollte weder an Züge mehr denken noch an all das, was er noch heute hatte erledigen wollen. Er wollte nur noch seinen Zorn unterdrücken: „Ich bin zum letzten Mal hier, zum letzten, allerletzten Mal.“

Dann wurde er endlich in das große Zimmer des Konsuls gerufen. Korrekt in dunklem Anzug saß der mit kurzgeschorenem pomadisierten Haar hinter einem riesigen kahlen Schreibtisch. Er war jünger als der alte Mann. Nicht weit von ihm entfernt saß vor einer Schreibmaschine die Brünette, die ihn vorhin angelächelt hatte. Jetzt lächelte sie nicht mehr.

„Also, Sie wollen das Vaterland verlassen?“ fragte der Konsul. Und ohne eine Antwort abzuwarten: „So eine Undankbarkeit! Erst lassen Sie sich mit offenen Armen hilfsbereit aufnehmen, und nun machen Sie das mit uns. Mit Ihrem Vaterland! Was sind Sie eigentlich?“ „Maler, Kunstmaler“, antwortete der alte Mann. „Das Bild da draußen im Flur ist von mir“, fügte er ganz leise hinzu und sah dabei nicht den Konsul, sondern die Brünette an. Sie hob den Kopf und lächelte ihn, den alten Mann diesmal ganz offen an.

„So“, sagte der Konsul, „hoffentlich bereuen Sie diesen Schritt später auch nicht! – Schreiben Sie, Senorita“, und er diktierte einen Text, in dem von der Abgabe des Passes und von einem Bericht an das Gericht die Rede war. Der alte Mann mußte unterschreiben und anschließend von der nahegelegenen Bank achtzehn Mark überweisen. Er lächelte zu der Brünetten hinüber und ging.

Auf der Straße waren nur wenige Menschen. Abends wimmelte es hier im Bahnhofsviertel von Lustsuchenden und -gebenden. In den Schaufenstern Fotos von Damen mit spärlicher oder gar keiner Bekleidung. Die verschiedensten Typen, junge und alte, üppige, magere, schwarze in Haar und Haut, blonde, traurige; eigentlich schienen sie alle traurig, auch wenn sie lachten.

Der alte Mann sah nicht hin, „Arschloch, Superarschloch!“ murmelte er vor sich. Dann stolperte er fast über einen Hund, der angeleint auf dem Bürgersteig hockte. Sein sehr altes  „Herrchen“ studierte diese Ansammlung von Schönen mit Kennermiene. Er blieb stehen und merkte erst jetzt richtig, in welcher Gegend er sich befand. Aber er beachtete die Fotos nicht, es störte ihn, daß der andere sie auch sah. Er ging zur Bank, zahlte und kam auf dem gleichen Weg zurück.

Der Herr mit dem Hund war mittlerweile verschwunden, so konnte sich unser alter Mann nun den Fotos in aller Ruhe widmen. Er tat es ausgiebig. Plötzlich entdeckte er eine ganz nackte Kleine mit großem Busen in unverschämter Pose. Sie lächelte. „Caramba“, flüsterte er, „daß ist doch nicht möglich!“ Die Nackte war die Brünette vom Konsulat und lächelte ihn an. Nein, kein Zweifel, das war sie! Körper und Gesicht konnte man ja vielleicht verwechseln, aber dieses Lächeln?

Lange stand der alte Mann vor dem Schaufenster, dann riß er sich zusammen und ging. „Unmöglich. Wie kann das sein? Aber kann ich mich denn derart irren? So kann doch nur eine lächeln.“ Er war ganz niedergeschlagen und vergaß darüber, daß es schon fast ein Uhr war und das Konsulat zu dieser Zeit bis zum nächsten Tag schließen würde. Er kam auch tatsächlich erst nach Büroschluß dort an, aber siehe da, die Tür war noch offen. Er war so verwirrt, daß er nicht einmal darüber staunte.

Die Brünette kam ihm lächelnd auf dem Korridor entgegen; „Die anderen sind schon gegangen; ich bin nur geblieben, um Ihnen Ihre Papiere zu geben.“

Der alte Mann sah sie an. In seinen Augen war noch das Lächeln der Nackten. Er nahm die Papiere und eilte ohne Gruß davon.

Video – Portrait

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