Wv 288 "Die Gutachten"

Wv 288 „Die Gutachten“

„Regressive Künstler gesucht! Das wäre etwas für Sie.“ „Ich regressiv?“ Der Galeriebesitzer erklärte mir also: „Frauen, Tiere, Blümchen, Landschaften sind passé. Schauen Sie sich eine Ausstellung in meiner Blauen Galerie an. Neue Realität!“ Ich sah die Neue Realität und mußte einsehen: „Tatsächlich, ich bin regressiv.“

Schon längst hatte ich die Anzeige vergessen, als Herr G. M. (Großer Mäzen) seinen Besuch vom Sekretär anmelden ließ: „Vergessen Sie nicht, er ist ein Kunsthändler!“ Ein reicher Sammler also, träumte ich. Aus einem riesigen Wagen, der die ganze Nachbarschaft in Staunen versetzte, stieg ein selbstsicherer, gütig lächelnder Mann. „Nett, daß Sie geschrieben haben.“ Ich zeigte ihm meine Bilder. Als er alle gesehen hatte, inspizierte er die Werkstatt und das Haus, musterte die Frau und den Hund. Dann befragte er mich über meine Weltanschauung, Ideale, Gewohn-heiten und Tagesablauf. Einen so neugierigen Kunden hatte ich noch nie gehabt. „Wie Sie wohl wissen, habe ich einen Künstlerschutzverein gegründet. Wir wollen die Künstler schützen, die von der Ausrottung bedroht sind. Deshalb haben wir ein Reservat eingerichtet.“ „Ein Reservat?“ „Ja, ich verstehe, daß Sie staunen. Ich habe bewußt auf die Assoziation des gejagten Tieres mit dem den Tendenzen nicht folgenden Künstler gezielt. Beide werden verschwinden, wenn… Und hier unsere Aufgabe. Es ist eine schwere und verantwortungsvolle Arbeit, dieser besonderen Gattung das Überleben zu ermöglichen.“ „Ein Stipendium also?“ „Viel mehr! Eine integrale Unterstützung.“ „Und glauben Sie, ich könnte ins Reservat aufgenommen werden?“ „Wahrscheinlich. Ich werde über meinen Besuch bei Ihnen Bericht erstatten. Aber Sie müssen ein Gutachten einschicken.“ Ich staunte: „Sie haben doch meine Bilder gesehen und können sagen, ob sie regressiv sind.“ „Meine Meinung ist noch kein Urteil. Viel Geld wird in das Reservat investiert und wir brauchen Unterlagen. Also Gutachten von einem Kritiker und einem Kunsthändler!“ Und er ging.

Ich war meiner Sache sicher, als ich den Besitzer der Blauen Galerie besuchte. „Erinnern Sie sich an die Anzeige?“ „An die regressive Kunst? Doch, aber das war sicher ein Witzbold!“ „Nein, ich brauche ein Gutachten von Ihnen.“ „Ein Gutachten?“ „Ja, daß ich regressiv bin.“ „Aber Esteban! Machen Sie keine Geschichten und spielen Sie nicht auch noch den Beleidigten“ „Ich brauche wirklich…“ Er ließ mich nicht ausreden. Nach einer langen erfolglosen Diskussion wußte ich: Verba volant, scripta manent – und gott weiß, wie sich die Kunst noch entfalten wird.

Der berühmte Kunstkritiker und verehrte Professor Oryap empfing mich in seinem Arbeitszimmer. Er lehnte sich vom Manuskript zurück und schaute mich an. Seine Hände faltete er päpstlich zusammen. „Beherrschen Sie vielleicht die Kunst der Gedankenübertragung? Eben habe ich an Sie gedacht. Ich arbeite an einem Buch über die Kunst im 21. Jahrhundert, und darin muß ich Sie ständig erwähnen!“ Natürlich war ich fest davon überzeugt, daß er mich als ein ausgezeichnetes Beispiel eines überholten regressiven Künstlers schilderte. Als bat ich ihn sofort um eine Gutachten. „Aber, Fekete! Sind Sie von Sinnen? Gerade Sie sind doch der Vorläufer einer neuen Kunst! Sie müssen noch ein wenig Geduld haben, bis Sie entdeckt werden…“

So warte ich also und suche noch immer nach den Gutachten, die mir den Eintritt in das Reservat ermöglichen sollten.

Video – Portrait

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