Nachdem das gesagt ist, kann ich darauf verweisen, daß wir auch diesmal wieder dem bewährten Rezept unserer Künstler-Dialoge über Generationen hinweg gefolgt sind. Sieglinde Gros, Jahrgang 1963, hat aus den vier Fekete-Werkverzeichnissen eine Auswahl jener Holzschnitte getroffen, auf denen der Stifter der Galerie, Jahrgang 1924, einen Faden gelegt hat, den mit Beispielen aus dem eigenen Schaffen motivisch, farblich, atmosphärisch aufzugreifen sie sich animiert fühlte. Und wir wiederum, als Publikum, sind aufgefordert, den Affinitäten zwischen beiden Künstlern auf die Fährte zu kommen ebenso wie dem, was sie trennt. Meine Aufgabe ist, dabei ein paar Schritte voranzugehen. In einigen Fällen ist die gemeinsame Schnittmenge ja nicht zu übersehen. Ich denke da an den großformatigen Holzschnitt „Frankfurt oder Die Metropole“ direkt neben mir, ein selbst für den passionierten Erzähler Esteban Fekete ungemein detailpralles Blatt. Wahrzeichenhaft wiedererkennbar der Eiserne Steg und der Dom. Wir schauen von Westen nach Osten und befinden uns eindeutig auf der Sachsenhäusener Seite. Erst auf den zweiten Blick geht uns auf, daß wir es nicht mit einer reinen, ruhigen Stadt-Ansicht, einer Vedute, zu tun haben. Das Blatt enthält ordentlich Action! Rechts unten wimmelt eine Menge wild durcheinander, Arme erheben sich im Aufruhr; an einer Stange ragt eine Fahne in die Luft, die sich, guckt man ganz scharf hin, als die der USA erweist, halb schon von Flammen verzehrt. Siehe da, auch auf dem jenseitigen Mainufer ist Rambazamba. Mögen die Figuren dort noch kleiner sein, es besteht kein Zweifel, daß da Autos in Brand gesteckt werden. Derweil zwischendrin ein Ausflugsdampfer ungerührt seine Route mainabwärts zieht. Das Entstehungsjahr des Holzschnitts, 1973, läßt ahnen, was seinen Urheber inspirierte: die damals mit der Uni-Stadt Frankfurt assoziierten Demonstrationen linker Studenten, als Protest im Zweifelsfall gegen den noch laufenden Vietnam-Krieg. Er schildert das Geschehen vermutlich aus äußerer wie innerer Distanz, abgeschmeckt allenfalls mit einer leisen Prise Humor.
Die Gros’schen Gruppen stehen über jedem Tagesgeschehen. Die äußere Haltung, die sie einnehmen, und die innere Haltung, die sie ausdrücken, lassen vielmehr schließen auf menschliche Grundsituationen. „Das Innere nach außen sichtbar machen“, lautet ihre Handlungsmaxime. Im konkreten Fall eine Haltung des in die Ferne Schauens, in Erwartung, was da kommen möge – ungewiß dabei, worauf die Figuren hoffen, was sie fürchten. Automatisch läßt mich das an ein Bild denken, gemalt in den politisch bangen 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Ich muß die PowerPointPresentation jetzt mit meinen bloßen Worten leisten: In Rückenansicht hat der deutsche Phantast Richard Oelze eine dichte Menschengruppe dargestellt, kenntlich nur an ihren Mänteln und Hüten. Gebannt verfolgen sie, selber in fahl-gelbliches Licht getaucht, von erhobenem Aussichtspunkt das Heranrollen düsterer Wolkenbänke. Nein, ich will nicht argumentieren, daß Sieglinde Gros sich das historische Gemälde zur Vorlage genommen hätte; gut möglich, daß es ihr gänzlich unbekannt ist. Habe ich erwähnt, daß Oelzes Bild „Erwartung“ betitelt ist, genauso wie bestimmte Arbeiten von Sieglinde Gros? Ohne Zweifel besteht da eine gemeinsame Gefühlslage, wurzelnd in der Erfahrung, daß wir doch seit langem Bürger einer Massengesellschaft sind, an der das Individuum nolens volens teilhat, mit allen Begleitphänomenen wie Massenbegeisterung und Massenpanik, Militärparade und Arena-Popkonzert, Flashmob und Lynchmob.
Doch für Gros wie für Fekete gibt es auch den Gegenpol, das Kontrastprogramm zur Masse und zur Gesellschaft überhaupt. Es kommt bestimmt nicht von ungefähr, wenn unsere Holzbildhauerin, die zum Hauptthema der hier ausgestellten Reliefs das Meer hat, bei ihrer Auswahl unter den hunderten Blättern des Farbholzschneiders mit Vorliebe auf dessen zivilisationsferne Irland-Motive verfiel. Mit der Maßgabe freilich, daß Esteban Fekete das große Wasser wahrnimmt als Abstand zwischen zwei Streifen Land, den es, eifrig im Boot rudernd, zu überwinden gilt. Oder als Gegenstand stiller Beobachtung und Meditation, aus sicherer, trockener Entfernung. Bei Sieglinde Gros dagegen ist das Meer meist alleiniger Akteur, erlebt als Elementarmacht, heranrollend in horizontalen Brechern, die nicht nur wie dicke Krusten aus der Schichtholzplatte ihrer Reliefs herausgeschnitten sind, sondern auch links und rechts ausbrechen aus der gewohnten Rechteckskonvention. Einmal erfaßt die Bildhauerin die Woge seitlich, im Aufbäumen, kurz vorm Moment des Sich-Überschlagens. Und zollt damit natürlich Tribut einem berühmten Farbholzschnitt, nein nicht vom Gundernhausener Meister Fekete, sondern vom japanischen Meister Hokusai.
Das „Versunkene, Gedankenverlorene“ vieler Figuren des Kollegen Fekete ist es, wovon die Jüngere sich angezogen fühlt. Das „Innehalten, Mit-sich-selbst-beschäftigt-Sein“ denn die Qualität, die sie auch für die eigenen Werke anstrebt. Exemplarisch wird das auf den für die Einladungskarte ausgesuchten Motiven. Beides Paarsituationen. Zweifelsfrei zwei Frauen auf dem höllisch rot glosenden Fekete-Blatt, die etwas vor- oder zuzubereiten scheinen, worauf Flasche und Schale mit Löffel – oder sind es Mörser und Stößel? – hindeuten. Mir kommen diese, jetzt wenig überraschend, „Wartenden“ betitelten Schönheiten vor wie Macbeth’sche Hexen, Hüterinnen eines Rauschelixiers, mit dem sie die Männerwelt zu bezirzen gedenken. Gar nichts Laszives verströmen die beiden Partner in Sieglinde Gros‘ fast lebensgroßer Skulptur „Duett“. Tiefrot ist nur der als wuchtiges Gebälk angedeutete Hintergrund, aus dem sie, selber von ihrer Urheberin farblich in ein neutrales Graublau gefaßt, hervortreten. Wobei die rechte Figur der linken die Hand auf die Schulter legt, offen, ob das nun eine stützende oder voranschiebende Geste ist. Wer bereit ist, darin ein Mann-Frau-Verhältnis gespiegelt zu sehen, der kann auch gleich so weit gehen, Motiv und Haltung ikonographisch zurückzuverfolgen zu mittelalterlichen Darstellungen der Vertreibung aus dem Paradies – wahrscheinlich waren Adam und Eva damals auch so blaß um die Nase.
Doppelbödigkeit und großer Interpretationsspielraum sind charakteristisch für sämtliche Beiträge zu dieser Ausstellung. Ich möchte schließen mit zwei Beispielen aus Raum 1 und Raum 3, wo dieser Aspekt nochmals potenziert auftritt und das jeweils in einer Formulierung, die mir symbolisch scheint für künstlerische Schöpferkraft überhaupt. Über-Haupt. Denn die Gros-Skulptur „Fülle“ zeigt nicht irgendeinen Durchschnittskopf, sondern eine Version, aus deren Scheitelkuppe wiederum eine ganze Figurengruppe entspringt: Geisteskinder, Kopfgeburten, wie weiland Athene dem Haupt des Zeus. Während der Fekete’sche Holzschnitt „Ich male eine Drossel“ uns das Paradox unterbreitet, daß der gefiederte Bildgegenstand auf dem Darstellungswerkzeug Pinsel hockt und den realen Malakt so blockiert. Aber man schaue richtig hin: die Augen des Malers sind sowieso geschlossen wie im Schlaf. Der Blick unserer beiden Künstler, er geht, wertes Publikum, nach innen.
© Dr.Roland Held, Darmstadt 2022