Helmut der Förster hatte einen Frischling gefunden. Das arme kleine Wildschweinchen war in eine Grube gefallen, die ausgehoben worden war, um die Dicke der Sandschicht im Boden festzustellen. Man wollte wissen, welche Bäume in dieser Gegend gepflanzt werden konnten. Das arme Tierchen war schon ganz schwach, wer weiß, wie viele Tage es schon in der Grube zuge-bracht hatte. Eigentlich mußte man von „ihr“ reden, denn es war ein Weibchen, würde also einmal eine Bache sein. Helmut fütterte die werdende Bache mit Milch und Griesbrei und tatsächlich hatte er Erfolg: die Kleine überlebte.
In seinem Hof befand sich ein Schweinestall, den Helmuts Vorgänger errichtet hatte. Helmut selbst hatte außer einem Dackel keine anderen Tiere gehalten. Dieser Schweinestall also wurde der Wohnort des Frischlings. Helmut war ein Kunstfreund und nannte den Frischling „Lisa“; er dachte dabei an Leonardo und dessen berühmtes Bild „Mona Lisa“. Lisa hatte es gut: es war Frühling und mildes Wetter. Sie bekam gut und reichlich zu fressen.
Helmut war Stammgast in der nahegelegenen Gaststätte „Spitzenwirt“. Seinen Militärdienst hatte er bei der Marine absolviert und dort auch kochen gelernt. Im „Spitzenwirt“ hatte er schon öfter ausgeholfen, wenn ein Koch fehlte. Das Essen war in dieser Gaststätte sehr gut. Trotzdem ließen Gäste viel auf ihren Tellern zurück, was alles Lisa bekam. Anzumerken ist noch, das Lisas linkes Ohr ganz hell war, eine seltene Abnormität.
Inzwischen war ein Jahr vergangen und aus Lisa war eine schöne kräftige Bache geworden. Helmut meinte, daß jetzt die Zeit gekommen war, sie freizulassen, sie „auszuwildern“ wie man das nennt. Er hatte sie in sein Herz geschlossen und wollte nicht, daß sie gleich abgeschossen würde. Deswegen brachte er Lisa in einem Auto-Anhänger in den Bad Homburger Wald und ließ sie dort frei. In Bad Homburg ist nämlich ein Herzsanatorium, und in dieser Gegend darf nicht gejagt werden, um die Patienten nicht mit Schüssen zu erschrecken.
Am Stammtisch im „Spitzenwirt“ lobten alle Helmuts Weitsicht, aber die gute Stimmung dauerte nicht lange: Es kam bald die Nachricht, daß im Bad Homburger Sanatoriumspark ein Wildschwein aufgetaucht war und dort die Spaziergänger verfolgte. Die Bad Homburger beschlossen, das Wildschwein abzuschießen, wenn es noch einmal tagsüber dort erschiene. Es tauchte immer um vier Uhr nachmittags auf, das war die Stunde, zu der Helmut Lisa jeweils gefüttert hatte.
Man bat einen Jäger, die grausame Tat auszuführen. Er postierte sich hinter einen Baum an der Stelle, wo Lisa immer zu erscheinen pflegte. Übrigens war es kein Geheimnis mehr, daß es sich um Lisa handelte. Tatsächlich tauchte Lisa auf und näherte sich einem Kind. Der Jäger legte seine Büchse an, schoß aber nicht. Jäger sind schließlich keine Mörder, und so ein zahmes Tier zu schießen brachte er nicht über sich. Vielleicht auch hatte er Lisa erkannt, man hatte in Bad Homburg von ihr gehört und von ihrem Merkmal, dem hellen linken Ohr. Lisa erschrak vor dem Jäger und verschwand.
Man trug Helmut auf, Lisa einzufangen. Er fuhr am nächsten Tag nach Bad Homburg; gegen sechzehn Uhr erschien Lisa, erkannte Helmut und ließ sich von ihm gefangennehmen. So lebt nun Lisa weiter bei Helmut und bekommt vom „Spitzenwirt“ die guten Essensreste. Freiheit ist schön, aber sicheres gutes Fressen ist noch besser.
Esteban Fekete
Stetteritz, am 24. Januar 2008