am 19. Juni 2016
Im heißen Sommer 2003 lief hier im Haus schon mal eine Ausstellung mit Zeichnungen, Zeichnungen allein von Esteban Fekete. Da wir ihn damals noch quicklebendig unter uns hatten, eröffneten wir nicht mit einer Rede, sondern mit einem Zwei-Personen-Podiumsgespräch zum Thema Zeichnung, das ich mit dem Künstler führen durfte. Ich zitiere ihn im folgenden wortwörtlich: „Es ist 22 Jahre her. Ein damals alter Kollege, inzwischen ist er verstorben, gute Erscheinung, war Professor hier an der TH Darmstadt und sagte: ‚Esteban, ich habe ein süßes Modell. Willst du Akt zeichnen?’; Ja, warum nicht. Das kostet nicht soviel. Ich bin hingegangen, und der erste Schock war, daß das Mädchen wirklich schön war, der zweite, daß der alte Herr, mein lieber Kollege, da gestanden hat mit einem weichen Bleistift in der einen Hand und einem Radiergummi in der anderen. Das war fürchterlich. Ein Radiergummi ist mir verpönt. Was er gezeichnet hat, das war ein Gemälde mit Graphit gemacht, alles schwarz-weiß oder grau-weiß modelliert, und dauernd radierte er etwas. Ich habe schnell gezeichnet und zwar ihn. Da hing dann diese Zeichnung dort; ich war bald fertig, denn entweder gelingt etwas oder es gelingt nicht. Wir haben dann verglichen; er war fürchterlich enttäuscht von meiner Zeichnung wie ich von seiner. Das Erlebnis war die unterschiedliche Auffassung.“.
Womit wir, meine sehr verehrten Damen und Herren, bereits das entscheidende Stichwort hätten: denn von dem, was eine Zeichnung sein kann, gibt es nun mal völlig unterschiedliche Auffassungen. D.h. völlig unterschiedliche Realisierungen in der künstlerischen Praxis, zwischen den Polen sparsam-umreißend-spontan, wie vertreten von Esteban Fekete, und bedachtsam-modellierend-dicht, wie vertreten von… Ja, wer war denn bloß sein „alter Kollege, inzwischen verstorben“, mit dem er die Akt-Sitzung durchführte? Zwar heißt die TH Darmstadt längst TU Darmstadt, doch im allgemeinen Bewußtsein besitzt der Name Müller-Linow nach wie vor einigen Klang. Und wer Feketes Aussagen mit der Wirklichkeit vergleichen möchte – voilà, das von ihm mit minimalem Aufwand ausgeführte Blatt, das den zeichnenden MüLi zeigt, findet sich im hinteren Raum unseres heutigen Aufgebots. Bruno Müller-Linow, 1984 mit dem Georg-Christoph- Lichtenberg-Preis für Bildende Kunst geehrt, war mit mehreren Arbeiten vertreten in der Übersichtsschau „Fekete und seine Künstlerfreunde“, die vor wenigen Wochen hier zuende ging. Für die laufende Ausstellung nun haben wir unserem wenn nicht Hausherrn, so doch Stiftungsgeber, drei andere Träger des Lichtenberg-Preises zur Seite gestellt, wie als wollten wir aus der Geschichte des Preises einen Bogen schmieden, von Esteban Fekete, Preisträger 1979 und somit der erste überhaupt, über Leo Leonhard (Preisträger 1982) bis zu Martin Konietschke (Preisträger 2009) und Kurt Wilhelm Hofmann (Preisträger 2013). Nun stünden theoretisch ja fünfzehn Preisträger zur Verfügung. Einschränkendes Auswahlkriterium war diesmal jedoch ein enger Bezug zur Zeichnung, belegbar mit einer entsprechend großen Produktion. Daraus wiederum ergab sich ein ganzes Spektrum eben der unterschiedlichen Auffassung davon, was mit Fug und Recht den Namen Zeichnung beanspruchen kann.
Gemeinsam ist allen Varianten, egal welches Werkzeug oder welches Temperament sich darin äußert, daß kleinstes Bauelement, ich möchte fast sagen: Atom einer Zeichnung die direkte Spur ihres Urhebers ist, ob wir die nun Strich nennen, Geste, Zug oder Linie. Wobei dieses Atom am Ende freistehend geblieben oder in einem Dickicht von Schwester-Atomen aufgesaugt sein kann. Wobei auch jeder der vier Begriffe anders besetzt ist, Linie zum Beispiel mit der Assoziation: hoher ästhetischer Wohlklang. Von Leo Leonhard ist des öfteren gesagt worden, die Begabung zur Linie sei ihm in die Wiege gelegt. Das große querformatige Blatt „Rosettas Abschiedstanz“, eine freie Bilderfindung zu Georg Büchners Lustspiel „Leonce und Lena“, bestätigt das mustergültig. Zu sehen ist die Szene, wo der hingelümmelte Prince Leonce, der wie eigentlich aller Dinge auch seiner Geliebten Rosetta müde geworden ist, dieser zusieht, wie sie durch ein Tänzchen noch einmal seine Aufmerksamkeit zu erringen versucht. Er sieht ihr zu durch ein umgekehrtes Fernrohr, passend von Leonhard ergriffenes Symbol für die Distanz, mit der Leonce die rührend sich Mühende längst betrachtet. Mal dickere, mal dünnere Bleistiftstriche umspielen, je nach Material, das sie beschreiben, die Figuren, unterstützt von diversen Schraffuren, die den Figuren Körperlichkeit einhauchen: links der statisch zurückgelehnte Prinz in Stiefeln, rechts die grazile junge Frau, die so um ihre Achse wirbelt, daß man ihren Rock rauschen zu hören meint und daß ihr fünf Beine und Arme und drei Köpfe sprießen wie einem indischen Gott. Klar, daß es Leo Leonhard brennend interessiert, was Kollege William Hogarth vor 250 Jahren in London über die „Line of Beauty“, die „Schönheitslinie“, verfaßte. Wie übrigens es auch Lichtenberg interessierte, der über den Engländer geschrieben hat und den unser Künstler als klein bucklicht Männlein in seine Radierung nach Hogarths Buchillustration förmlich einsteigen läßt. Ein weiteres Beispiel dafür, wie Leonhard sich von Lektüre inspirieren oder von kunsthistorischen Debatten entzünden ließ. Seine Hommage an den Dichter Ezra Pound schließlich, die eine dramatische Episode aus dessen Leben zeigt, haben wir ausgewählt, um per Beispiel zu demonstrieren, wie nahtlos auf Leo Leonhards Leinwänden Zeichnung in Ölmalerei übergehen kann. Schwarz angerissen nur als Pinselspuk ist diese Szene; völlig naturalistisch-plastisch davor ein uns den Rücken zuwendender Zeuge des Geschehens, in dem man, je nach Neigung, wiederum Pound erkennen mag, aber genausogut den Maler selbst als universalen Beobachter.
Ich schreite den Bogen der Lichtenberg-Preisträger weiter ab und komme an ausgerechnet bei Kurt Wilhelm Hofmann, dessen Auffassung von Zeichnung in vieler Hinsicht konträr zur Leonhard’schen ist. Nicht nur, daß seine Darstellungen insular die Mitte der weißen Papierfläche besetzender Naturobjekte gar nichts Erzählerisches haben. Massig, brütend, konzentriert in einem Tonspektrum von hier und da aufgelockertem Mittelgrau zu ziemlich sattem Dunkelgrau gewährt speziell die Serie der Nester kaum je einer einzelnen Linie Auslauf. Als handelte es sich um schwarze Löcher im Weltraum, die alle Materie um sich herum in sich schlingen und dadurch nur potenter werden. Trotzdem trifft meine vorhin ausgebreitete Atom-Theorie der Zeichnung zu auch auf sie. Denn ob Nest oder Angelköder oder Kamm – entstanden sind sie aus Akkumulationen von Strichen, einer nach dem anderen, einer über den anderen, mit Bleistiften Härtegrade 2B bis 4B. Auch der von Fekete verabscheute Radiergummi kommt zum Zuge, freilich nicht als Mittel der Korrektur, sondern der partiellen Aufhellung, um dem Gebilde glaubhafte Detailstruktur zu verleihen. Im Ergebnis ist das sehr still, womöglich meditativ-still – irgendwie Ein-Gegenstand-Stilleben– und zugleich sehr expressiv, über schummerige Flecken von Graphit und Spritzer von Frühstückstee ausstrahlend ins Umfeld. Die Fische werden vom ihnen beigegebenen wissenschaftlichen Artennamen nicht davor bewahrt, unterm Betrachterblick schier zu zerfallen. Und auch der welkenden Rose hilft es nicht, dass ihr im letzten Moment ein Dorn gewachsen ist, mit dem sie ihren Schöpfer in den Finger gestochen hat. So daß zu den gelegentlichen homöopathisch dosierten Buntstiftakzenten auf diesem einen Blatt, mittlerweile braun nachgedunkelt, ein Originalblutstropfen Kurt Wilhelm Hofmanns verewigt ist. Will uns das sagen, daß sich der Künstler in die Memento-mori-Botschaft seiner Naturobjekte ausdrücklich mit einschließt?
Mit Martin Konietschke haben wir jemanden, der primär als Bildhauer bekannt ist. Und er führt uns vor, wie die Linie auch zum plastischen Metier das ihre hinzugibt: von den Einritzungen im „Trompeter“-Relief über die Durchstiche in der Brust des Männertorsos bis zu den fadendünnen Beinchen, die den kastenförmigen Oberkörper und halslosen Kopf seiner Lichtenberg-Porträtstatuette zu tragen haben. Viel weiter gespannt noch ist die Fülle an Linien-Varianten, welche die zahlreichen Arbeiten auf Papier tragen. Zart bis fingerdick, weil hier von Feder oder Stift, dort vom Pinsel aufgetragen, umfahren sie die Figuren, deuten sie auch binnenzeichnerisch deren Volumina an. So gut wie nie steht die Linie solo da; fast immer ist sie – kontursuchend, -überlagernd, -aufbrechend – in einem ganzen Linien-Bündel regelrecht verwirbelt, was der Darstellung, über Leiblichkeit und Sinnlichkeit hinaus, Bewegung und Dynamik einflößt. Nicht von ungefähr kehrt das Motiv des Tanzes wieder, allerdings ausgeführt vom Mann-Frau- Paar, was Konietschke Gelegenheit gibt, die erotischen Möglichkeiten voll auszukosten. Gerne fügt er mit breitem Pinsel flüssige Lavierung in unterschiedlichen Graustufen hinzu, um dem Ganzen mehr Substanz zu verleihen – was anfangs Zeichnerisches bei Malerischem enden läßt. Auf den Radierungen ist es die Aquatinta-Technik, die zu den in die Kupferplatte geätzten Linien das Flächige und Malerische beisteuert. Man studiere einmal, wie auf dem Blatt mit dem einsamen Strandwanderer im aufziehenden Sturm die wild gewellten Voluten der Wolken, des Meeres, der Felsenklippen einander korrespondieren, bis in die mitgerissenen Locken des Spaziergängers hinein. Zurück zu den eigentlichen Zeichnungen. Wer etwas über die tiefste Ressource von Martin Konietschkes Kreativität erfahren will, dem sei das lavierte Blatt ans Herz gelegt, wo hinter dem offensichtlich sitzenden Künstler seine in rosig-grauer Nacktheit erblühte Muse steht, sie ganz Körper, er, grinsend aus tiefen dunklen Augenhöhlen, ganz Kopf, der ihm denn auch liebevoll gekrault wird.
„Eine gut gezeichnete Sache ist immer gut genug gemalt“, pries der französische Klassiker Jean Ingres die Produkte des spitzen Stifts und des spitzen Pinsels. Auf Einladungskarte und Plakat zur heutigen Ausstellung haben wir eine frühe, noch aus der argentinischen Zeit stammende Gouache-Malerei von Ersteban Fekete gebracht: einerseits, weil Farbe Fernwirkung besitzt, andererseits, weil Linie darin ebenso vorhanden ist, nämlich in der kräftigen Kontur des Gebäudes und der Bäume davor. Kontur um die Figuren regierte lange die Fekete’schen Farbholzschnitte. Bis er in den achtziger Jahren noch einmal Lust auf Neues bekam und mit einer Art impressionistischer Auflösung der Formen experimentierte. Stilistische Wandlungen durchliefen, verfolgt über die Jahrzehnte, auch seine Zeichnungen. Als filigrane Dickichte, mal organisch, mal kristallin im Detail, locken uns die ursprünglich mit der feinen Tuschfeder gezogenen Illustrationen zu Wielands exotischem Roman „Koxkox und Kikequetzel“ von 1958 in sich hinein, davon wir Kostproben in der Flachvitrine ausgelegt haben. Danach erst schloß sich die Phase an, die Fekete selbst wohl als typisch für seinen zeichnerischen Duktus empfand: eine Figur, ein Objekt, eine Szene mit einem Minimum an Aufwand rasch hinwerfen. Zunehmend griff er dafür zur Rohrfeder, die sich je nach Druck spreizt und somit an- und abschwellende Spuren von großer Ausdruckskraft hinterläßt. Wie er damit melodiös Körper umreißt, mit Vorliebe weibliche natürlich, ruft in Erinnerung, daß am Anfang aller Bildenden Kunst die Umrißzeichnung sozusagen als Ur-Leistung von geistiger Abstraktion des Menschen steht. Im Spätwerk lehnte Esteban Fekete es interessanterweise oft ab, willig in die Schönheitsfalle zu tappen. Auf den kleinen Hochformaten aus Irland werden die Striche bewußt spröde, zerkrakeln und zerbröckeln, passend dazu, daß da keine Idyllen berichtet werden, sondern auch mal eine blutige Verkehrskarambolage. Zuletzt möchte ich Ihre Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren, lenken auf ein Blatt ganz am Endpunkt des Ausstellungsrundgangs. Als „Paar am kalten Kamin“ habe ich 2009, als ich gemeinsam mit Fekete-Agentin Ursula Paschke den künstlerischen Nachlaß sichtete, die unbetitelte Zeichnung katalogisiert. Ich hätte sie freilich auch nennen können: „Der Ofen ist aus“. Nochmals bietet die Rohrfeder all ihr Gestaltungspotential auf in der Schilderung der beiden Personen in heimischem Ambiente, die sich anscheinend, nach einem Zerwürfnis, im ersten Moment zaghafter Wiederannäherung befinden. Am Endpunkt unseres Ausstellungsrundgangs, sagte ich. Doch nicht am Endpunkt unserer Anstrengungen, den Georg-Christoph-Lichtenberg-Preis und seine bis dato fünfzehn Träger, die zusammen auch eine „Linie der Schönheit“ verkörpern, wieder stärker ins Bewußtsein des Publikums zu heben.
© Dr.Roland Held, Darmstadt 2016
Besucher der Fekete-Galerie im Museum Roßdorf werden zur Zeit überrascht sein von einer hier vergleichbar bisher noch nie erlebten Helligkeit. Die lichte Atmosphäre ist der Beschränkung auf eine einzige Farbe, schwarz auf weißem Papier, zu verdanken. Unter dem Titel der am 19. Juni 2016 eröffneten Ausstellung „Auf Linie gebracht -Vier Lichtenberg-Preisträger stellen aus“ läßt sich staunend studieren, auf welch unterschiedliche Weise sich hier vier preisgekrönte Künstler des Landkreises Darmstadt-Dieburg auch solcher Voraussetzung zu stellen wußten.
An Feketes unverwechselbaren Farbholzschnitten wird zu Recht der Reichtum an Farbnuancen bewundert, der sich den zart übereinander gedruckten, fein gemaserten Holzplatten verdankt, die geduldiges Entschlüsseln des Betrachters verlangen. Interessanterweise ist hier seine stets durchgehende, mal kraftvoll, mal zarte, klare Linienführung der Rohrfeder-Zeichnungen ganz im Gegensatz dazu sparsam und immer eindeutig. Auf Reisen und Wanderungen waren ihm Stift und Skizzenheft stets zuverlässige Begleiter.
Bettina Bergstedt schreibt im Darmstädter Echo 5.7.2016 vom „begnadeten Zeichner Kurt Wilhelm Hofmann (Lichtenberg-Preisträger 2013), dessen Malweise aus oft sehr dichten Stricheleien plastische Gebilde in den Raum wachsen lassen, die die jeweilige Oberfläche fast greifbar erscheinen läßt. Die Geweihe, auf dem weißen Untergrund schwebend, werden durch eine relativ glatte Oberfläche charakterisiert, die schwerelosen, fast schwebenden Nester aber durch Dichte, durch eine Fülle an Holzmaterial, das kreuz und quer fein verwoben eine feste Struktur bildet, einen sicheren Rückzugsort.“
Martin Konietschke (Lichtenberg-Preisträger 2009) präsentiert Grafiken, Bronzen und ebenfalls Zeichnungen, bei letzteren „zeigt er eine ganz andere Strichtechnik als Hofmann, indem Konietschke nur die Umrisse fein strichelt, mit aufgebrochenen und fast zittrigen Linien wirken die Menschen, die er überwiegend darstellt, wie flüchtige Gestalten. Schatten werden durch durchscheinende, schnell auf das Papier geworfene Aquarellstriche angedeutet: „Das Tanzpaar“ (Bleistift, laviert) wird jeden Moment eine andere Haltung einnehmen. Da kommt die offene Malweise gerade recht.“
Leo Leonhards „Linien“, er war nach Fekete 1982 der zweite Lichtenberg-Preisträger, sind fein und Gemälden ähnlicher als Grafik. „Seiner Radierung ‚Porträt Lichtenberg‘ ist neben einer kleinen Frauengestalt und einem Skelett sogar ein Text zugefügt, in dem der Physiker und Aphoristiker Lichtenberg mit Ironie auf seine körperliche Behinderung, Kleinwüchsigkeit und einen Buckel hinweist:
„Herz und Kopf liegen da enger beieinander und die Entschlüsse können noch ganz warm ratifiziert werden.“
Das Museum Roßdorf mit seiner sorgsamen Präsentation von vier Lichtenberg-Preisträgern, die ihrer Ernennung alle Ehre machen, lohnt wiederholte Besuche, es ist ein verlockender Ort für Stille und Kontemplation.