Die Mutter hatte nicht geheiratet. Sie war zwanzig, als sie ihren Sohn bekam. Der Vater, ein angehender Zahnarzt, wollte Karriere machen und wanderte nach Amerika aus. Sie hörte nie wieder von ihm. Aber das war keine große Tragödie, denn die Großeltern des Jungen trösteten die junge Mutter, und sie selbst fand auch ihre Lebensaufgabe in ihrem Sohn. Der Junge war gut, ohne großes Talent, aber beharrlich.
Sie lebten in einer Wohnung der Eltern, auch nach deren Tod. Die Mutter war Beamtin in einer Behörde. Der Sohn war es gewohnt, tagsüber allein zu sein. Er lernte zwar leicht, aber nicht begeistert. Wenn die Mutter abend nach Hause kam, hatte er nicht nur die Schulaufgaben erledigt, sondern auch vieles im Haushalt. Sie lebten ohne Aufregungen, also glücklich. Die Pubertät des Jungen wurde ohne große Schwierigkeiten überstanden. Der Junge interessierte sich nicht besonders für Mädchen, reifere Frauen zogen ihn mehr an. In Griechisch war er besonders gut, weil in diesen Sagen immer Frauen, schon verheiratete, große Rollen spielten und nicht die Mädchen. Er studierte Jura und arbeitete dann in demselben Amt, in dem auch die Mutter beschäftigt war.
Er arbeitete fleißig und interessierte sich weiterhin für Frauen. Überall, auf der Straße, bei Besuchen und auch im Amt. Er erzählte auch seiner Mutter von ihnen, die allmählich unruhig wurde. Sie fühlte eine Bedrohung auf sich zukommen und horchte immer mehr auf. Sie durfte den Sohn nicht verlieren, sie mußte einfach etwas dagegen unternehmen können. Und so entdeckte sie eine neue Fähigkeit in sich: sie konnte zaubern. Sie konnte nicht alles verzaubern, aber das, was ihr Sohn ihr zeigte, konnte sie verwandeln. Nur sehen mußte sie es; daher bat sie ihn, ihr alle seine Bekannschaften vorzu-führen. Der Sohn fand diese Anteilnahme, diese Sorge reizend. Brav holte er die Frauen vor seine Mutter. Und diese verzauberte sie bald. Sie verwandelte sie in ein Tier, oder auch in einen Gegenstand. Dann tat sie so, als ob sie die jeweils ausgestopfte Ente, den Marder, die Kanne oder die Pendeluhr gekauft hätte, und sie standen dann in der Wohnung herum. Der Sohn fand das zuerst auch gut, aber das Interesse an den Verzauberten war damit erloschen.
So ging es einige Jahre, bis der Sohn hinter die Zauberkünste seiner Mutter kam. Er wollte endlich weiterkommen mit den Frauen, sie nicht gleich in ein Tier verwandelt haben. Wie aber? Ganz einfach: sie nicht von der Mutter erblicken lassen.
Da war eine kleine, lebhafte Witwe, ausgerechnet im Amt. Ach, wehe, wenn die Mutter merkte, daß sie ihm gefiel und daß auch sie ihn sympathisch fand! Sicher wäre schon ein Eichhörnchen aus ihr geworden. Nein, das durfte nicht geschehen!
Die Mutter merkte auch schon. daß lange keine Verzauberung mehr stattgefunden hatte. Warum? Vielleicht hatte ihre Kraft nachgelassen? War sie krank? Sie beantragte eine Kur. Dort würde sie sich erholen und wieder richtig zaubern können! Es war Herbst, ein schöner Herbst, die Tage wurden kürzer, aber es war noch warm. Die Erholung tat gut.
Der Sohn aber nützte die Abwesenheit der Mutter und lud die Witwe zu sich ein. sie kam und blieb auch, immer öfter. Das war ein schöner Herbst. Die Kur aber ging zu Ende. Noch wenige Tage, un die Mutter würde kommen und zaubern. „Ach, es ist egal, Schicksal, ich kann nicht dagegen an“, dachte der Sohn und wollte doch der Mutter zum Empfang eine Freude machen. Er erinnerte sich, daß sie sich immer einen großen Spiegel gewünscht hatte, einen, der die ganze Wand in der Diele bedeckte, sie so erweiterte und der einem auch ein Bild von Kopf bis Fuß bot, um vor dem Ausgehen zu sehen, ob der Hut sitzt und der Mantel gut steht. Insgeheim wünschte er sich selber darin zu sehen, befreit von den Zauberkünsten seiner Mutter, zusammen mit seiner kleinen Witwe! Also kaufte er einen solchen Spiegel und ließ ihn sofort montieren. Er schrieb seiner Mutter kein Wort davon, denn es sollte ja eine Überraschung sein.
Die Mutter kehrte zurück, am Nachmitteag, als der Sohn noch im Amt war. Es war schon etwas dunkel, als sie die Wohnungstür aufmachte. Ein Schrecken! Eine Frau stand ihr gegenüber! Jetzt, jetzt mußte sie noch einmal Kraft haben, ja, sie spürte schon, die Kur hatte geholfen! „Sei eine Krähe!“ befahl sie. Und wahrhaftig! Sie war zu einer Krähe geworden!