Ulysses, mein Schäferhund, hatte sein Fleisch immer vom Schlachthof bekommen. Das überflüssige Fett schnitt ich ab und warf es einige Meter hinter unserem Garten auf das Feld. Zwei Krähen kamen dann regelmäßig, und nach einigen Wochen warteten sie schon auf die für sie wunderbare Gabe. Wir wurden keine Freunde, aber gute Bekannte. Ich nannte sie Romeo und Julia. Ich weiß nicht warum, vielleicht, weil sie unzertrennlich wirkten, vielleicht auch nur zum Spaß, sicher aber nicht aus Vorahnung. So vergingen sechs Jahre. Romeo und Julia bauten sich in jedem Frühjahr ein Nest in einer hohen Tanne in der Nähe. Fast immer schlüpften zwei Junge aus, selten drei. Wenn die Kleinen am Ende des Sommers groß waren, flogen sie weg, die Alten blieben. Jedenfalls hatte die eine der beiden eine weiße Feder am Flügel, für mich war sie Julia.
Ich sagte schon, daß sechs Jahre seit unsere ersten Begegnung vergangen waren. Es wurde September, Romeo und Julia waren wieder nur zu zweit. Eines Morgens, noch vor sieben Uhr, weckte mich ein klägliches Krähen. Julia saß auf der Spitze unsere hohen Pappel und war sichtlich aufgeregt. ich ging zu ihr in den Garten, sie flog nicht weg, sondern krähte mit gesenktem Kopf weiter. Sicherlich wollte sie etwas. Ich verstand sie nicht. Schließlich flog sie davon. Am Mittag kam sie wieder, und so ging es einige Tage lang. Dann wurde es still. Ich sah keine Krähe mehr, und auch das Fett blieb liegen.
Eines Tage begannen Ulysses und ich unseren Nachmittagsspaziergang hinter unserem Haus. In einer Entfernung vonetwa einem halben Kilometer sind dort Hochspannungsleitungen zwischen großen Stahlmasten gespannt. Unter einem solchen lag etwas Schwarzes. Ulysses lief hin und blieb stehen. Eine weiße Feder – Julia. Sie war tot, lag da unter dem Mast. Keine Wunde, kein Anzeichen von Gewalt, Stromschlag. Aber wie? Sie mußte sich absichtlich gestreckt haben, um gleichzeitig Leitung und Mast zu berühren. Wo aber war Romeo?
Es vergingen wieder einige Tage. meine Frau sagte mir dann an einem Abend, daß sie bei der benachbarten Gastwirtschaft in einem leeren Hundezwinger etwas Schwarzes habe fliegen sehen. Ich ging hin, es war eine schwarze Krähe. War es vielleicht Romeo? Der Wirt war sehr stolz auf den Vogel. Er nannte ihn Jakob und erzählte, daß sein Sohn ihn gefangen habe. Wie? Mit Fisch. Von Tag zu Tag habe er ihn näher gelockt, bis er ihn dann einmal mit einer Decke habe einfangen können. Ich rechnet. Armer Romeo! Er mußte es sein, denn der Tag der Gefangennahme deckte sich wohl mit dem Morgen, an dem mich Julias klägliches Krähen geweckt hatte.
Jetzt verstand ich. Ich versuchte, den Armen zu kaufen. Ohne Erfolg. Wieder vergingen Wochen. Man fütterte ihn gut, rief „Jakob“, und er trippelte aus der Hundehütte, wo er sich sonst verkroch. Ich handelte weiter, bis – leichtsinning genug – die Summe zu verlockend wurde. Man packte Jakob in eine Pappkiste und gab ihn mir. Triumphierend trug ich sie nach Hause und öffnete dort den Deckel. Er flog weg, aber nicht weit, und setzte sich auf den ersten Baum. Wartete. Als ich mit Ulysses den Nachmittagsspaziergang machte, folgte uns Jakob in der Luft, so spazierten wir zu dritt.
Drei Tage dauerte es, bis er wegflog. Aber er kehrte öfters zurück. er blieb allein. Vier Jahre sind seitdem vergangen. Noch immer ist er allein. Er wartet auf Julia.